Familie Weiss teilt sich ihr Heim mit 30 000 Autos

 

                     MARKDORF - "Keine Minute ist Ruhe - ach was, keine Sekunde": Oskar und Edeltraud Weiss

                     leben seit Jahrzehnten an und mit der B 33. Befürworter und Gegner der Südumfahrung haben

                     am Donners-tag, 27. September, das Wort - bei der Podiumsdiskussion der Schwäbischen

                     Zeitung um 20 Uhr in der Markdorfer Stadthalle.

 

 

                     Von unserer Mitarbeiterin Kerstin Brauers

 

                     Wir stehen auf der Terrasse, dieser herrlich großen Terrasse mit bunt bepflanzten

                     Blumenkübeln, und schweigen. Wir schweigen uns an, weil Reden wenig Sinn macht. "Hören

                     Sie nur", brüllt Oskar Weiss, und wir hören: Wusch, wusch, zischt die nicht enden wollende

                     Karawane aus Lastwagen, Motorrädern und Autos vorbei. Wusch. Der Lärm schwillt an und ab

                     und hört nie auf. Oskar Weiss mag sich nicht festlegen: Was ist schlimmer? Wenn sie fahren

                     oder wenn sie stehen? Das Ergebnis ist dasselbe: Abgase und Lärm.

 

                     Seit 60 Jahren steht das Haus der Familie Weiss. Eingekeilt zwischen Weinsteig und B 33.

                     Stolze 25 600 Lastwagen und Autos brausen jeden Tag über die Bundesstraße. Auf der

                     Weinsteig sind es 6200. Macht über 30 000 Autos, von denen Oskar und Edeltraud Weiss

                     Tag für Tag umgeben sind. Macht zehn Millionen Autos im Jahr. Zehn Millionen mal wusch.

                     Macht in sechs Jahrzehnten - so lange lebt Edeltraud Weiss in ihrem Elternhaus - ach, wir

                     wissen es nicht, das Ziffernfeld des Taschenrechners reicht dafür nicht aus.

 

                     Wir flüchten ins Innere des Hauses. Fenster zu, Türen zu, die sind schall-dicht, und dann

                     verwandelt sich der Lärm in dumpfes Brummen. Allgegenwärtig. "Mit der Zeit stumpft man ein

                     wenig ab", sagt Edeltraud Weiss und hebt automatisch die Stimme. Zur Ruhe kommen sie nie.

                     Schon gar nicht nachts.

 

                     Dreimal ist das Paar im eigenen Haus schon umgezogen. Erst war das Schlafzimmer im ersten

                     Stock, dann im Erdgeschoss. Zur Zeit ist das Dachgeschoss aktuell. Das kleine Fenster geht

                     zur Weinsteig hinaus. "Das konnten wir im Sommer einen Spalt offen lassen", erzählt Oskar

                     Weiss, Friseurmeister a. D, der an Tinnitus leidet und das auf die "permanente Beschallung"

                     zurückführt.

 

                     Er hat die Zahlen stets griffbereit, ein dickes Paket aus Verkehrszählun-gen und

                     Lärmmessungen. "Das Geld für die Südumfahrung ist da", sagt er. "Aber was hilft es, wenn wir

                     hier gegen Markdorfer kämpfen müssen?" Gegen Menschen, die nicht mit der Bundesstraße

                     leben, sondern ganz woanders. "Am Gehrenberg vielleicht, wo es paradiesisch ruhig ist."

                     Familie Weiss wollte da auch mal hin. "Aber ich hänge halt an meinem Elternhaus", meint

                     Edeltraud Weiss. "Hier bin ich geboren. Wenn das nicht wäre, wären wir schon lange weg." So

                     wie der Nachbar, der kapituliert hat und umgezogen ist.

 

                     So schlimm wie dieses Jahr war es noch nie, finden die Weiss': "So viele Lastwagen, und jeden

                     Tag laufen die Mütter mit ihren Kindern vorbei. Dass hier nicht mehr passiert, ist ein Wunder."

                     Kein Wunder sind nach Meinung des zuständigen Handwerkers die Risse, die sich seit kurzem

                     in die Wände des Hauses fressen. Im Keller sind sogar die Kacheln gesprungen. "Das kommt

                     von der Straße", glaubt auch Weiss. "So ein altes Haus setzt sich doch nicht mehr."

 

                     Die Fenster könnte Edeltraud Weiss bald jede Woche putzen. "Für jedes brauche ich einen

                     ganzen Eimer Was-ser." Und der Garten ist nicht nutzbar. Als wir zwischen den Blumenbeeten

                     stehen, dröhnt ein Laster vorbei und kommt uns fast so nah wie das Grünzeug. Spedition xy

                     hat gerade den Garten durchquert.

 

                     "Uns ist klar, dass die Bundesstraße niemals zur Spielstraße wird", sagt Oskar Weiss. "Aber

                     wir wären schon froh, wenn es nur halb so viele Autos und keine Lastwagen wären." Einer hat

                     vorgeschlagen, die Anwohner umzusiedeln. Toller Vorschlag, findet Weiss: "Wenn 300 Leute

                     hier wegziehen, wird das eine Geisterstadt."

 

                     Neulich konnte das Ehepaar mal wieder ausschlafen, aber dafür muss-ten sie nach London

                     fahren. Da wohnt die Tochter, mitten im Zentrum. Lärmlos in London? "Wieso Lärm?", fragt

                     Edeltraud Weiß zurück. "Ich sag Ihnen was: Wir haben geschlafen wie die Fürsten."