Wunschkonzert und
Streichkonzert
So würde das
Autobahnnetz im Südwesten heute aussehen, wenn ein Plan von 1973 umgesetzt
worden wäre
Von Nicolai Kapitz
Kilometerlange Staus am Bodensee, Lkw-Kolonnen auf der B32, enge Ortsdurchfahrten auf der B311: Für die knapp 100 Kilometer
quer durch das Verbreitungsgebiet unserer Zeitung, von Tuttlingen nach Wangen
im Allgäu, braucht der Autofahrer bei normalem Verkehr etwa zwei Stunden. Es
gibt kaum eine Schnellstraße, wenige Überholmöglichkeiten, selten
Ortsumfahrungen. Vor allem horizontal – von West nach Ost – herrscht
verkehrstechnisch Mangel und Fülle zugleich: Mangelhaft ausgebaut sind die
Verbindungen, deshalb sind die wenigen Straßen voll. Gedacht war das einmal
anders: Bis Anfang der 80er-Jahre gab es umfangreiche Pläne zum Bau von
Autobahnen im Süden Baden-Württembergs. Gebaut wurden nur die wenigsten. Oft
standen Bürgerproteste im Weg, oft war es der Rotstift. Die Schwäbische Zeitung
wagt einen Blick in die längst vergangene Zukunft.
„Man hat
mich damals sogar als Autobahn-Mörder bezeichnet“, sagt Rudolf Bindig heute.
Der 73-Jährige war 25Jahre lang Mitglied im Verkehrsausschuss des Bundestags,
als SPD-Abgeordneter aus Ravensburg. Was ihm teilweise heute noch vorgeworfen
wird: Bindig war entscheidend daran beteiligt, dass eine der umstrittensten
Autobahnplanungen im Süden Deutschlands nicht verwirklicht wurde – die A98. Am
Autobahnkreuz Hegau treffen die Autobahn81 aus Stuttgart, der
Bodenseeschnellweg B33 aus Konstanz und eine Autobahn aus Stockach aufeinander.
Letztere ist das bislang 13Kilometer lange einzige Stück der einst geplanten
Bodenseeautobahn A98. „Sie sollte durch das Hinterland des Bodensees führen,
vom Kreuz Hegau bis zu einem Autobahnkreuz bei Wangen, wo sich A98 und A96
getroffen hätten“, erklärt Rudolf Bindig.
Der Wunsch
war, die Autobahn durch das Allgäu sogar weiter bis nach Irschenberg an der A8
zu bauen. In die andere Richtung sollte die A98, teils durch die Schweiz, bis
ins Dreiländereck bei Lörrach führen, wo es seit 1983 auch ein Teilstück gibt.
Mehr als 20Jahre lang endete dieses nach der Wiesentalbrücke, einer der
längsten deutschen Straßenbrücken, quasi mitten im Wald. Erst seit 2006 gibt es
mit der A861 einen Anschluss ans Schweizer Autobahnnetz in Rheinfelden. Der
Rest der A98 blieb unvollendet. Dieses Schicksal teilt die Bodenseeautobahn
allerdings mit vielen anderen Projekten.
„In den
70er-Jahren gab es eine regelrechte Autobahn-Euphorie“, sagt Rudolf Bindig. Der
damalige Bundesverkehrsminister Georg Leber hatte den Satz geprägt: „Kein
Deutscher sollte mehr als 20Kilometer von einer Autobahn entfernt wohnen.“
Bindig erinnert sich noch an die Zeit, in der die ausufernden Autobahnpläne
geschmiedet wurden. „Im Bundesverkehrswegeplan 1973 sind die wildesten
Planungen verzeichnet. Ein wildes Netz von Autobahnen“, erinnert er sich. Ein
Blick auf den Plan zeigt einen Traum für jeden, der gerne und schnell Auto
fährt – und einen Alptraum für jeden Naturschützer. Geworden ist aus den
Träumereien meist nichts.
Ähnlich wie
im Hegau sieht es zum Beispiel am Autobahndreieck Bad Dürrheim aus. Eine als
A864 betitelte Schnellstraße schließt die Städte Villingen-Schwenningen und
Donaueschingen an die Autobahn 81 an. Es ist das Relikt eines Vorhabens, das
einst als A83 über Tübingen und Reutlingen bis nach Stuttgart verlaufen sollte.
Bei Donaueschingen wäre die A83 auf eine weitere Autobahn gestoßen: Die
Hochschwarzwald-Autobahn A86, die von der französischen Grenze her kommend über
Freiburg, Tuttlingen, Mengen und Ehingen bis nach Ulm verlaufen wäre. Eine A88
hätte von Memmingen über Biberach nach Riedlingen
führen sollen. Ungebaut bleiben auch die A80 und die
A88. Die eine hätte Stuttgart und Ulm über Göppingen verbinden sollen, die
andere Stuttgart und Aalen über Schwäbisch Gmünd. Ein weiteres Vorhaben war die
Direktverbindung Stuttgart-Ravensburg. A85 sollte diese Autobahn heißen. Von
der Landeshauptstadt über Reutlingen und Sigmaringen direkt an den Bodensee in
etwas mehr als einer Stunde – auch das blieb ein Strich auf einem Plan. An
einem „Autobahndreieck Baindt“ wäre diese A85 auf
eine weitere A gestoßen: Auch die heutige B30 war einmal als Autobahn A89
geplant. Sie wurde auch gebaut, aber nur von Biberach bis Ulm. Das dortige
Autobahndreieck Neu-Ulm ist im Übrigen eine Kuriosität: Es ist Deutschlands
einziges Autobahndreieck ohne Autobahn. Es treffen dort lediglich die
Bundesstraßen30, 10 und 28 aufeinander. Die Schilder wurden allerdings in
Autobahn-Blau errichtet und sind es noch heute.
Der
Hauptgrund dafür, dass diese Autobahnen nie gebaut wurden, hat einen Namen:
Bundesverkehrswegeplan 1980. „Der Plan von 1975 war das große Wunschkonzert,
der von 1980 dann das große Streichkonzert“, erinnert sich Rudolf Köberle an
diese Zeit. Von April 2005 bis Februar 2010 war der 60-jährige CDU-Mann aus Fronhofen zuständig für die Verkehrspolitik des Landes: als
Politischer Staatssekretär im Innenministerium in Stuttgart. „Dieses dichte
Netz, das in den 70ern geplant war, hätte man aus mehreren Gründen nie
realisieren können“, sagt Köberle. Zum einen sei Autobahnbau schon damals von
Umweltschützern bekämpft worden. „In der damaligen Zeit war der Bau zwar von der
Planung her einfacher, aber die Bürger hatten da schon ein ökologisches
Bewusstsein“, sagt der Landtagsabgeordnete. Außerdem sei ein Strich auf einer
Landkarte schnell gezeichnet. „Wenn es dann aber ins Detail geht, dann gibt es
schwierigste Diskussionen mit Grundstückseignern, Bürgerinitiativen und und und.“ Drittens seien die
Kosten auch damals einfach nicht zu stemmen gewesen.
Ein Blick
auf den Investitionsplan für den Verkehrswegebau 1980 zeigt: Es wurden
insgesamt rund 7000Kilometer Bundesautobahn aus der Planung genommen. Im
Südwesten, südlich von Stuttgart, wurden etwa 1200Kilometer gestrichen. Die
meisten der Autobahnen haben die Planer auf dem Papier durch einen Ausbau der
vorhandenen Bundesstraßen ersetzt. So wurde aus der A86 ein Ausbau der B311,
aus der A88 wurde eine ausgebaute B312, aus der A85 die B32. „Es war
Verkehrsminister Volker Hauff, der dem Treiben ein Ende machte. Aus dem ganzen
Wirrwarr sollten nur die Projekte verwirklicht werden, die es wert waren“, sagt
Rudolf Bindig. „Dieses wilde Netz wäre noch im Jahr 2100 nicht vollendet.“
Planungen wie die A85 oder A86 seien schnell gestrichen worden.
Die
Bodenseeautobahn blieb vom Streichkonzert vorerst verschont – und der Streit
ging weiter. „Es will niemand eine Autobahn vor seiner Haustüre haben“, sagt
Rudolf Köberle. „Die Bodenseelandschaft ist hochsensibel, da prallten viele
Interessen aufeinander.“ Die Trassenführung – ob seenah
oder seefern – sei ein Problem gewesen, bei dem man
sich nie habe einigen können. „Bis ich den Gordischen Knoten durchschlagen
habe“, sagt Rudolf Bindig. Er habe veranlasst, dass die A98 im
Bundesverkehrswegeplan 1985 nochmals auf den Prüfstand kam und schlussendlich
zugunsten eines B-31-Ausbaus gestrichen wurde. Die Autobahn sei schließlich in
den Plänen nachrangig gewesen: „Manche Leute haben so getan, als ob die A98
kurz vor dem Spatenstich stand. Das war nicht so. Dass der Ausbau der
Bundesstraße dann so langsam ging, dafür sind andere verantwortlich.“
Wie am
Bodensee blieb der Ausbau vieler Bundesstraßen bisher an vielen Stellen ein
bloßes Vorhaben. „Ganz wichtig wäre endlich eine leistungsfähige Verbindung von
Freiburg nach Ulm oder nach Memmingen“, sagt Bindig. „Ob als Autobahn oder als
Bundesstraße, das ist egal.“ Eine solche Verbindung wünscht sich auch Rudolf
Köberle. Ihm wäre auch ein durchgehender Ausbau der B30 wichtig. „Aber so
einfach ist das nicht“, sagt Köberle. „Es sind immer massive Eingriffe in die
Natur unserer Heimat. Eine Straße trennt immer. Ob Landschaft oder Menschen.“
Das zeigt
sich auch beispielhaft an der B31 am Bodensee: „Versagen der örtlichen
Behörden, Kläger in Friedrichshafen gegen die Umgehungsstraße. Und der damalige
Bürgermeister von Hagnau wollte gar keine Umfahrung haben“,
erinnert sich Rudolf Bindig. Heute herrscht dort Tempo30. Auf den Beinamen
„Autobahnmörder“ ist Bindig heute trotzdem beinahe stolz. „Er zeigt, dass ich
damals Erfolg gehabt habe. Die Autobahn wäre doch heute noch nicht fertig. Und
stellen Sie sich einmal diese grandiose Bodenseelandschaft durchschnitten von
einer Autobahn vor. Ich würde heute noch einmal genauso entscheiden.“