Doch diese Maßnahme ist
umstritten. Experten sind uneins, ob der langsame Verkehr überhaupt zur Senkung
der Feinstaubwerte beiträgt. Und der Automobilclub ADAC fürchtet, dass
Abkürzungen quer durch Wohngebiete attraktiver werden. Trotzdem werden viele
Kommunen gar keine Wahl haben: Das EU-Recht zwingt sie, Tempolimits einzufügen.
In der TÜBINGER Innenstadt
müssen Autofahrer seit ein paar Wochen den Fuß vom Gas nehmen. Ende November
hat Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) die Tempo-30-Schilder am Stadtring
nördlich der Altstadt enthüllt — zum Ärger vieler Autofahrer. In Leserbriefen
ist Palmer zum Buhmann geworden. Mutmaßliche Raser demolierten prompt einige
der Schilder. Dabei kann Palmer gar nichts für das Tempolimit: Die Stadt ist
wegen EU-Rechts dazu gezwungen, das Regierungspräsidium hatte es durchgesetzt.
„Wir hätten es ohne Anordnung des Regierungspräsidiums nicht gewagt“, sagte
Palmer.
Friedrichshafen
erhofft sich Lärmminderung
„Wir hatten gar keine
Wahl“, erklärte Carsten Dehner vom
Regierungspräsidium Tübingen. „Wenn die Feinstaubwerte zu hoch sind, müssen wir
etwas machen. Sonst besteht die Gefahr, dass die EU Strafzahlungen festsetzt.“
Anderen Städten droht ähnliches. ULM und REUTLINGEN sind im Regierungspräsidium
unter Beobachtung. Und auch in RAVENSBURG werden die Feinstaubwerte allmählich
zum Problem.
Auch in FRIEDRICHSHAFEN
gilt auf manchen Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 - meist allerdings nur nachts
zwischen 22 und 6 Uhr. Der Verkehrslärm kommt vor allem von der Bundesstraße
31, die auf mehreren Kilometern durch Friedrichshafen führt. Durch den
Stadtteil Fischbach fahren beispielsweise täglich rund 20 300 Autos und 2400
Lastwagen. Die Stadt erhoffe sich von dem Tempolimit eine merkliche
Lärmminderung in der Nacht, heißt es aus dem Rathaus. Ein
Ausbau der Bundesstraße wird seit Jahrzehnten in der Region gefordert, der
Baubeginn dafür ist aber noch immer ungewiss.
Situation hat sich
„gefühlt“ deutlich verbessert
Auch im Regierungspräsidium
Stuttgart gilt auf einigen Durchfahrtstraßen schon
Tempo 30. Im WAIBLINGER Stadtteil Hegnach wurde das
Tempo im Frühjahr gedrosselt, um die Anwohner vor dem Verkehrslärm zu schützen.
Rund 20 000 Fahrzeuge rollen Hochrechnungen zufolge täglich über die Straße,
die Waiblingen mit Ludwigsburg verbindet. Weil jetzt langsamer gefahren wird,
gebe es schon weniger Lärm, sagte Werner Nußbaum,
Fachbereichsleiter der Stadt Waiblingen.
KARLSRUHE hat bei zwei
Durchgangsstraßen zumindest nachts Tempo 30 vorgeschrieben. Der Lärm dort sei
nachweisbar geringer geworden. Auch ULM bremst die Autofahrer während der Nacht
an sogenannten Lärmbrennpunkten ab. „Berichte von Anwohnern zeigen auf, dass
sich die Wohnsituation in den entsprechenden Straßenabschnitten zumindest
gefühlt deutlich verbessert hat“, sagte eine Sprecherin.
Am Auto ansetzen
In BADEN-BADEN gibt es zwar
Tempo-30-Bereiche - „aber weder aus Gründen der Feinstaubproblematik noch wegen
Lärmemissionen“, betonte ein Sprecher. Der Sicherheit zuliebe seien auf
Bundes-, Land- und Kreisstraßen auf bestimmten Streckenabschnitten nur 30 km/h
erlaubt.
Auch in HEILBRONN und
LEONBERG gibt es Tempo 30 vor allem wegen der Sicherheit. Für Leonbergs großes
Feinstaub-Sorgenkind, die Grabenstraße, bringe eine solche
Geschwindigkeitsbegrenzung nichts, machte die Stadtsprecherin deutlich. Dort
staue sich die Luft zu stark. „Hier hilft eigentlich nur, wenn man direkt am
Auto ansetzt und dessen Abgase reduziert.“ In Heilbronn gab es Überlegungen für
Tempo 30 auf einer Hauptstraße, doch der Gemeinderat lehnte ab.
Nicht
unnötigerweise in den Verkehr eingreifen
In STUTTGART dagegen
beschloss das Kommunalparlament im Sommer, auf einem Teil der B27 (Hohenheimer
Straße) stadtauswärts Tempo 40 einzurichten. Außerdem ist eine dynamische grüne
Welle für eine Verkehrsader der Innenstadt (B14) geplant, mit der das Tempo bei
Bedarf gedrosselt werden kann. Die B14 führt mitten durch Stuttgarts
Feinstaub-Hochburg Neckartor. Ein „Flickenteppich verschiedener
Geschwindigkeiten“ mache aber keinen Sinn, betonte der Sprecher.
In PFORZHEIM ist man beim
Thema Tempo 30 skeptisch. „Sofern das Thema Lärm auch anderweitig in den Griff
gebracht werden kann oder Belastungswerte eher gering sind, sollte nicht
unnötigerweise in den Verkehrsfluss eingegriffen werden“, sagte ein Sprecher.
Maßnahmen wie ein Flüsterasphalt seien „wesentlich wirkungsvollere
Alternativen“.
Tempolimits sind
umstritten
Auch der ADAC hat Bedenken.
„Feinstaub muss heute für alles herhalten“, sagte Reimund Elbe vom ADAC
Württemberg. „Wir wollen doch gerade, dass sich die Verkehrsströme auf den Hauptstraßen
bündeln und dass der Verkehr dort auch fließt.“ Bei Stop-and-go-Verkehr mit
Tempo 30 auf der Hauptstraße werde es wieder attraktiver, Abkürzungen durch ein
Wohngebiet zu fahren. „Man muss schauen, dass man nicht mehr Schaden anrichtet
als dass man Gutes tut.“
Unter Wissenschaftlern sind
Tempolimits zur Feinstaub-Bekämpfung ohnehin umstritten. Die
Landesumweltanstalt hat vorgerechnet, dass ein Auto mit 30 km/h im zweiten Gang
oft mehr Schadstoffe ausstößt als mit 50 km/h im vierten oder fünften Gang.
Lediglich die Reifen wirbeln bei höheren Geschwindigkeiten mehr Staub auf.
Verkehrs-Staatssekretärin
Gisela Splett (Grüne) sieht deshalb Vor- und
Nachteile. Beim Kampf gegen Lärm sei Tempo 30 ohne Frage sinnvoll, beim Kampf
gegen Feinstaub sei die Lage nicht so eindeutig. Letztlich gelte: „Nur wenn
durch das Tempolimit eine Verstetigung des Verkehrsflusses erreicht wird, führt
dies in der Regel auch zur Reduzierung der Emissionen.“
(Erschienen: 06.12.2012
07:30)