Überlingen

"Lehrstück politischer Bildung"

"Ich sehe den Bürgerentscheid als ein geglücktes Lehrstück politischer Bildung", sagt Michael Hermann, der sich als Soziologe mit politischer Kommunikation beschäftigt. Der Bürgerentscheid von Salem sei einmal mehr ein Beweis dafür, dass es die "Politikverdrossenheit" eigentlich nicht gibt.

Was bedeutet die hohe Wahlbeteiligung von 70 Prozent für die politische Kultur in einem Ort?

Zunächst einmal ist es für eine kommunale Demokratie ein sehr gutes Zeugnis, wenn sich fast 70 Prozent der Wahlbeteiligten an einem solchen Bürgerentscheid beteiligen. Bei vielen Landtagswahlen wäre dies ein sensationelles Ergebnis. Oder man denke daran, dass in Baden-Württemberg in jüngster Zeit Bürgermeister und Oberbürgermeister mit einer Wahlbeteiligung von nur 25 Prozent oder weniger gewählt werden. Es zeigt, dass bei entsprechenden Fragen ein großer Teil der Bevölkerung für politische Teilhabe mobilisiert werden kann. Insofern ist das Bild einer allgemeinen Politikverdrossenheit sicher nicht richtig. Das Potenzial für eine breite Partizipation an wichtigen gesellschaftlichen Fragen ist groß.

Kann die Bürgerbeteiligung die Bürger aber auch spalten?

Die Frage, die in Salem zur Entscheidung anstand, ist ein klassisches Dilemma. Für beide Positionen gibt es ausreichend rationale Begründungen. Insofern werden an dieser Entscheidung auch die Grenzen von Demokratie sichtbar. Die Mehrheit ist hauchdünn, einen Konsens kann es nicht geben, die Unterlegenen müssen sich fügen. Es ist klar, dass hier Verletzungen und Empfindlichkeiten zurückbleiben werden.

Wie können die Gräben zugeschüttet werden?

Wichtig ist, dass sich Befürworter und Gegner darauf verständigen, dass beide Seiten eine sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen haben. Sie müssen die jeweils andere Sicht der Dinge respektieren, auch wenn sie sie in der Sache für falsch halten. Salem sollte diesen Konflikt in einem geeigneten Prozess aufarbeiten. Hier gibt es gute Methoden wie zum Beispiel Zukunftswerkstätten.

Wie wirkt ein solch knapper Bürgerentscheid auf Jugendliche?

Entgegen der landläufigen Meinung sind Jugendliche an konkreten politischen und gesellschaftlichen Fragen sehr interessiert. Was sie ablehnen, ist die typische politische Kultur der Etablierten, in denen solche Themen diskutiert und zur Entscheidung gebracht werden. Also alles, was mit Macht, langdauernden Verfahren, formalen Anträgen, juristischen Überfrachtungen zu tun hat. Der Bürgerentscheid kommt der Art und Weise, wie sich Jugendliche mit Politik auseinandersetzen wollen, entgegen. Ich würde deshalb keine zusätzliche politische Entfremdung befürchten. Ich sehe den Bürgerentscheid eher als ein geglücktes Lehrstück politischer Bildung, auch wenn das knappe Resultat ein Problem darstellt.

Fragen: Stefan Hilser

Michael Hermann

Dr. Michael Hermann vertritt die Professur für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Der Experte für politische Kommunikation ist Professor an der Staatlichen Universität Nishnij Nowgorod. In seiner Habilitationsschrift "Politische Weltbilder Jugendlicher in der Mediendemokratie" beschäftigte er sich mit dem Erleben von Politik bei jungen Menschen